(Vorsicht: mögliche Trigger Essstörungen)
Vor kurzem bin ich hier und da auf den Body Positive Practicing Month gestoßen, den Wurzelfrau ins Leben gerufen hat:
http://wurzelfrau.de/2015/02/einladung-body-positive-practice-month/
Ich habe diesen
Anlass genutzt, mein Körper- und Bewegungsverhalten zu durchdenken.
Mein Körper und
ich, das ist eine lange Geschichte voller Missverständnisse. Als
Kind war ich schon immer sehr viel größer und dicker als die
anderen Kids. Ich habe mich dafür fast kontinuierlich geschämt.
Meine Eltern, beide berufstätig, nahmen mein Dicksein hin. Alle
Verwandten der väterlichen Linie waren/sind dick, also ich auch, das
ist halt so und hatte wohl in ihren Augen keinen erkennbaren
Zusammenhang mit der Speisekarte daheim, die noch sehr von der
„Fresswelle“ der 50er-60er geprägt war. Ich war ein mopsiges,
stilles, aber auch intelligentes und bis zur Pubertät meist auch
hgalbwegs beliebtes Kind. „Besser dick als doof!“, rief ich
frechen Jungs zu, die mich hänselten. (Es waren immer Jungs.) Ich
war die große Freundin, die die kleineren Mädchen vor den bösen
Buben beschützte. Ich fand das groß-und-dick-Sein damals nicht
immer schlecht.
In der 4. Klasse
musste ich auf Hausarztanweisung (O-Ton dieses Mannes: Man sollte
alle Dicken so lange in einen Käfig sperren, bis sie durch die
Gitterstäbe entkommen können) in eine „Kinderheilstätte“, um
dort abzunehmen. Sechs Wochen gab es u.a. ungesalzenen Reis mit
ungesalzener Tomatensoße, Spaziergänge im Kurgärten sowie nach
Schwefel schmeckende Heilwasser. Ich kam 12 Kilo leichter und 4
Zentimeter kleiner (???) nach Hause. Doch die Jahre drauf schoss ich
nicht nur weiter in die Höhe - ich hatte mit 12-13 herum meine heute
Körpergröße von knapp 1,80 erreicht – sondern auch in die
Breite. 100 Kilo wog ich da, was damals als unglaublich extremes
Übergewicht galt. Sportunterricht war eine Qual (Ringe...), den
Klassenkameradinnen bei ersten Dates und Knutschversuchen zuschauen
auch. Ich wollte das alles auch haben, was die hatten. Aber mich
würde ja nie einer lieben, wenn ich dick bin.
Nach einer
Skifreizeit mit Ekelessen und den ganzen Tag Skifahren oder besser
Skifallen waren es mit 14 noch 92 Kilo. Dann kam ich vier Wochen in
eine „Stoffwechselklinik“ und wurde auf „modifiziertes Fasten“
gesetzt. Das heißt, 450 Kalorien am Tag in Form von Diätdrink.
Klappte prima, ich nahm auch danach immer weiter ab dank
Schlabberbrei mit Geschmacksrichtung Vanille, Cappuchino oder Schoko.
Mit 15 entdeckte ich dazu, dass man ja gelegentlich zu sich genommene
Speisen auch einfach wieder erbrechen kann. Außerdem gab es damals
rezeptfreie Aufputschmittel, die den Hunger unterdrücken. Yeah!
Ich steuerte mit 16
rum auf meinen Kilotiefstand von 59 Kilo zu. Lehrer sprachen mich
drauf an, ob ich magersüchtig sei, und ich fand das toll. Je mehr
ich hungerte, desto mehr mag man mich und betüddelt mich, lernte
ich. Ich hasste und verachtete meine Mitmenschen dafür.
Zum Glück, sag ich
da, entdeckt eich im gleichen Alter, dass man auch andere verrückte
Dinge mit sich anstellen kann wie Sex, Saufen und Drogen nehmen. Ich
begann mich für Party und Jungs, Gedichte von Sylvia Plath und
verrückte Klamotten zu interessieren und verlor den Punkt Hungern
etwas aus dem Blick. Bis zur Studentenzeit blieb ich schlank, dann
ging ich wieder dank studentischer Fertigmenü-Whiskey-Mast in die
Breite. Mit Mitte 20 nahm ich noch einmal in meiner einzig ausprägten
manischen Phase deutlich ab, ebenso noch einmal mit Mitte 30 dank
einer vernünftigen Ernährungsumstellung. Das Problem ist – wenn
ich nicht wirklich sehr auf jede Kalorie achte, pendle ich mich, auch
mit gesundem Essen und Sport, irgendwo zwischen Kleidergröße 44 und
48 ein. (Auf eine Waage bin ich schon seit vielen Jahren nicht mehr
gestiegen.) Punkt.
Ja, und da bin ich
heute und denke mir mit 41 und dickem Bäuchlein zwischen rundem
Busen und über strammen Beinen – ich hab meinen Körper viel mehr
gerne als früher. Kein Wunder, wenn ich ihn immer so gequält habe
damals. Ich sage mir inzwischen – mein Körper ist mein bester
Freund.* Ich würde doch auch nie einen Freund hassen oder auch nur
weniger lieben, weil er zu dick ist oder nicht super sportlich. Ich
finde mich auch vom Aussehen in ok. Schön? Nein, da ich Schönheit
als eine überdurchschnittliche Sache definiere. Es ist eher so, dass
es mich nicht kümmert, ob ich "schön" bin. In meinem Job
beispielsweise muss ich aufmerksam, freundlich, verbindlich,
diplomatisch sein. Optimal ist ein gewisser Wiedererkennungswert (den
ich habe). Aber schön? Unnötig. Das gleiche gilt in meiner
Beziehung und in Freundschaften. Du musst schlank uns schön ein,
prasselt es von überall auf uns Frauen ein. Ich frage mich – für
wen?
* (Natürlich BIN
ich mein Körper. Und eigentlich auch sonst nichts. Das soll nur ein
Gleichnis sein.)
Nichtsdestotrotz
gibt es Dinge, die ich an mit toll finde: meine rote Haarmähne,
meine langen, muskulösen Beine, meine Augen, die die Farbe von grau
zu grün wechseln können.
Und natürlich
möchte ich durchaus gesund und halbwegs fit sein, um mich
wohlzufühlen.
Mit Mitte 20 habe
ich dafür Wandern für mich entdeckt, und wenn ich kann, streife ich
seitdem gerne in den Wäldern herum. Ich bin da nicht ungeheuer
ambitioniert, aber wenn ich mich mit Gleichaltrigen vergleiche, bin
ich lange nicht mehr so abgeschlagen unsportlich wie als Kind. Wenn
Zeit, Gesundheit und Wetter es zulassen, bemühe ich mich, meinem
Ziel von 5 km am Tag nahezukommen (mit Steigungen natürlich, ist ja
hier Mittelgebirge). Können auch mal 3 sein oder 12. Viel mehr laufe
ich seltenst am Stück. 20 Kilometer sind immer noch ein unerreichtes
Ziel. Wandern tut mir gut, befreit meinen Kopf, ist Therapie gegen
alles. Leider hatte ich in letzter Zeit Gezicke meiner Achillessehne
und musste etwas kürzer treten.
Dann mache ich
wieder Tai Chi. Hatte das lange Jahre betrieben, musste es aber wegen
meines Berufs einstellen, da ich zur Trainingszeit fast immer
arbeiten ging. Und ohne regelmäßigen Kurs bleibe ich einfach nicht
dran an der Sache. Nun habe ich bei einer neuen Trainerin einen neuen
Kurs in einem neuen Tai-Chi-Stil und mache das gerne. Schön ist
auch, dass mein wilder Ehemann, der meine Wanderleidenschaft nicht
ganz teilt, mit mir den Kurs zusammen besucht. Wir wollen auch
häufiger zusammen üben, heute haben wir es mal geschafft.
In den letzten Tagen
bemühe ich mich auch wieder, bewusster und gesünder zu essen. Ich
ernähre mich eigentlich ausgewogen, koche gerne und fast jeden Tag
frisch. Ich esse viel Gemüse, in letzter Zeit auch wieder häufiger
gekochte Getreidekörner, sonst auch Nudeln oder Reis, Kartoffeln,
Brot, Milchprodukte, ab und zu Fisch, etwas Obst. Und gerne
Knabbernüsschen aller Art. Ich trinke gerne Kaffee, Mineralwasser
und Rotwein oder auch mal Bier. Zurzeit lauer ich auf die
Wildkräuter, Bärlauch ist schon da und wird fleißig verwendet, die
Brennesseln lassen sich noch Zeit.
Ja, da bin ich nun.
Ich wollte eigentlich irgendein Bild von mir dazuposten, aber meine
Knipse hat beschlossen, dass das Bild total überbelichtet ist. Nun,
für unterbelichtet habe ich mich auch noch nie gehalten ;-)
3 Kommentare:
heyho :)
Äh, eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich den Text gelesen habe und super fand.
Ich finde es auch schön, dass du dich irgendwo eingependelt hast mit deinem Körper und seiner Form und damit zufrieden bist. Darin finde ich mich auch wieder.
Tai Chi fand ich auch immer cool, kann ich aber nicht, wegen der Knie. Ich kann einfach nicht mit leicht angebeugten Knien irgendwas machen, ausser aufm Rücken liegen oder wenn ich in einem See schwimme. ;)
Und ich finde es toll, dass du von deiner Hungerei und dem Abhnehmen weggekommen bist, weil du schlicht anderes zu tun hattest :)) Glück gehabt! Juhu!
Liebe Grüsse :)
ein toller Text von einer wunderbaren Frau (auf einem schönen blog...) Danke fürs Teilen :)
irka
Hi, habe deinen Text gerade gelesen & finde es ganz toll, dass du jetzt so viel liebenswerter mit dir umgehen kannst :)
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