Die Sterntaler
Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte bei seiner Mutter, einer armen Näherin, denn der Vater, so sagte die Mutter, sei tot. Früher sei als kleiner Händler mit einem Koffer voller Garne und Knöpfe über Land gezogen und davon eines Tages nicht wiedergekehrt. Manchmal, als das Mädchen noch sehr klein war, hatte es in den wenigen Wintermonaten, die der Vater zu Hause war, lautes Schimpfen vom Vater und Weinen der Mutter gehört, und Geräusche, die klangen wie Stöhnen und Klagen von einem verwundeten Tier. Doch eines Tages ging der Vater fort und kehrte nie zurück.
Manchmal fragte das kleine Mädchen, wo denn der Vater gestorben sei; da presste dann die Mutter die Lippen fest aufeinander und begann, von anderen Dingen zu reden. Am liebsten sprach sie über die Bibel, die neben dem Gesangbuch das einzige Buch im Hause war. Und das Mädchen lernte, dass es freigiebig sein müsste und fromm, und sich selbst niemals wichtiger nehmen dürfe als die anderen. Es war langweilig und anstrengend, ein Mädchen zu sein, dachte das Mädchen manchmal schamhaft, wenn es bis tief in die Nacht Wolle aufrippelte und Garn für die Mutter spann.
Eines Nachts träumte das Mädchen, der Vater sei zurückgekehrt. Am Tag zuvor hatte ein Bote einen Brief für die Mutter gebracht, und sie hatte nach dem Lesen die Lippen fester zusammengepresst als sonst. In der Nacht nun erwachte das Mädchen und ging zu der Kammer der Mutter, doch sie lag nicht im Bett, sondern schwebte wie ein Engel mitten im Raum. Es dauerte eine Weile, bis das Mädchen den Strick sah, an dem die Mutter hing.
Der Onkel übernahm nun das kleine Haus. Er wollte, dass das Mädchen als Dienstmagd für ihn arbeitete, und da das Mädchen gut und fromm war, tat es wie geheißen. Doch machten ihm die gierigen Blicke des Onkels Angst, und nachdem sich in seinem 12. Sommer sein Kleidlein das erste Mal mit Blut befleckte, zog er es an einem kühlen Oktoberabend in den Stall und versuchte, ihm weh zu tun.
Das Mädchen dachte an die verletzten Tiere, die sie früher bei ihrer Mutter gehört hatte, und an den fest zusammengepressten Mund der Mutter, der so selten lächelte, und ohne nachzudenken trat sie zu und lief davon.
Nun hatte sie gar nichts mehr, nicht einmal mehr den verlausten Strohsack beim Onkel. Sie besaß nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihr ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Sie lief weit weg vom Dorf, wo ihr Onkel lebte und ihre Mutter nun unter einem schönen Strauch wilder Rosen ruhte. In ihrem Kopf spürte sie eine große Leere, und sie merkte, wie ihre Beine zitterten, wenn sie erschöpft anhielt. Sie wollte nie wieder zurück dorthin, wo ihr Onkel war, doch ihr wurde langsam klar, dass es überall, in allen kleinen Dörfern dieses Reiches, diese Onkel geben konnte.
Und so ging sie im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld.
Da begegnete ihr ein armer Mann. Zuerst zuckte sie zurück, aber dann sah sie, dass er alt war, schwach und zahnlos. Dennoch funkelten seine Augen böse, als er sagte, »Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig.« Sie zögerte kurz, reichte ihm dann das ganze Stückchen Brot und sagte: »Gott segne dir's«, und ging weiter. Sie dachte an ihre Mutter, die unter der Decke geschwebt hatte wie ein Engel. Engel brauchen kein Brot.
Da kam ein Kind, und das Mädchen fragte sich, woher es kommen möge so weit ab vom Dorf. Dann sah es, dass es eine schwere Kiepe trug mit Schuhen darin, und so dachte sie, es wird wohl ein Schusterkind sein. Das Kind jammerte und sprach: »Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.« Da tat sie ihre Mütze ab und gab sie ihm. Später dachte sie, wieso hat das Schusterkind kein Mützchen, wo es doch so viele Schuhe hat? Aber schnell vergaß sie den Gedanken. Engel tragen keine Mützchen.
Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror, und noch eins, das bat um ein Röcklein, das gab das Mädchen auch von sich hin. Aber auch diesmal wunderte sie sich, denn es sah die Kinder zu einem Lager laufen, wo Menschen um ein Feuer saßen, Händler oder Schaustellermochten es sein, und es fragte sich, warum die Kinder nicht von ihren Eltern Leibchen und Röcklein bekämen. Doch dann dachte sie wieder, wo die Engel wohnen, da gibt es keine Leibchen und Röcklein.
Endlich gelangte sie in einen Wald. Inzwischen war schon dunkel geworden, und es wurde bitter kalt. Nur am westlichen Horizont konnte das Mädchen noch einen kleinen Streif helleres Licht sehen; schon funkelten die ersten Sterne. Sie hörte ein Rascheln im Gebüsch, war aber zu müde und hungrig, um sich zu sorgen. Als sie an einen kleinen See trat, um wenigstens ein bisschen zu trinken, sah sie ihre eigene Gestalt nur als dunklen Schemen, umrahmt von den Sterne. Es war ihr, als wenn sie eine Stimme hörte, die sie um ihr Hemdlein bat, und das fromme Mädchen dachte: »Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben«, und zog das Hemd ab und ließ es in das Wasser gleiten.
Und wie sie so stand und gar nichts mehr hatte, sah sie sich um und begann zu weinen. Sie sah hinauf zum bleichen Mond und den glitzernden kalten Sternen und weinte noch mehr, denn sie hatte gedacht, wenn sie alles hingab außer sich selbst, dann würde es die Mutter wiedersehen und ein neues Engelskleid bekommen von allerfeinsten Linnen. Doch sie spürte keine Belohnung, nur nagenden Hunger und die kalte Nachtluft auf der nackten Haut. Und so kroch sie in ein Gesträuch, um sich ein wenig zu wärmen, und ertastete dabei einige Beeren, schwarz wie der Nachthimmel über ihr. Sie probierte diese, und die Beeren schmeckten süß. Sie aß einige wenige, dann übermannte sie die Erschöpfung, und sie schlief ein.
Als sie aufwachte, war es noch immer schwarze Nacht, aber alles sah verwandelt aus und schrecklich und schön. Sie kroch aus dem Gesträuch, und ihr war wohlig und warm, obwohl der kalte Nachtwind an ihren langen Haaren riss. Die Sterne glänzten wie große, helle Taler am Himmel, und sie meinte, sie könne sie abpflücken, wenn sie sich nur ein bisschen höher würde recken können. Sie ließ sich auf den Rücken fallen und spürte ein Lachen tief hinten in ihrer Kehle aufsteigen. Zwischen ihren Beinen begann es, warm und lustig zu prickeln. Ihr war, als täte sich der Himmel auf und ziehe sie machtvoll hinauf, als sei es ein wilder Ritt wie auf einem durchgehenden Pferd. Dann spürte sie plötzlich eine heftige Übelkeit. Sie musste sich übergeben, und bunte Sterne tanzten vor ihren geschlossenen Lidern, als sie angestrengt würgte. Erschöpft sank sie zusammen. Ihr Herz raste schmerzlich, und die hellen Sterntaler über ihr drehten sich schnell und bedrohlich. Sie bekam große Angst. Das sah nicht aus wie die Einladung zu den Engeln. Das musste vom Teufel sein. Ihr Körper bebte und schwitzte, Schatten lösten sich aus dem Gesträuch um sie und kamen auf sie zu. Ich muss sterben, dachte sie, und da ist kein Himmel auf der anderen Seite. Dann wusste sie von nichts mehr.
Als sie erwachte, schmerzte ihr der Kopf, als sei sie heftig geschlagen worden, und ihr Mund war so trocken, als habe sie seit Tagen nicht getrunken. Sie konnte die Augen nicht öffnen, nicht einmal, als sie spürte, wie eine sanfte Hand ihren Kopf anhob und ihr etwas Wasser zwischen die aufgesprungenen Lippen goss. Lange lag sie so da, trank, wenn man ihr etwas in den Mund goss, und versuchte, sich zu erinnern. Die Mutter, der Onkel, der Wald... die schönen trügerischen Himmelstaler weit oben...
Sie öffnete vorsichtig die Augen und blickte in ein fremdes Gesicht. Es sah ein bisschen schmutzig, aber freundlich aus, und das Mädchen fasste Vertrauen. Schüchtern fragte sie, wo sie denn nun sei, und erfuhr, dass die beiden Kinder vom fahrenden Volk, denen sie Leiblein und Röcklein gegeben hatte, dies zu den Eltern gebracht hatten und diese sie dann ausgeschimpft und nach ihr gesucht hatten. Die freundliche Fremde fragte nach ihrem Namen, und da besann sich das Mädchen lange, und es fiel ihr nicht ein. Und da die Sterne so beindruckend gewesen waren in der verhexten Nacht, als sie beinahe gestorben war, sagte sie, sie wolle Stella genannt werden.
Und Stella blieb beim fahrenden Volk. Sie erlernte die Kunst, die Karten zu schlagen und die schönsten Körbe zu flechten, und da es darin sehr geschickt war, hatte sie es bald schon zu einigem Gold gebracht, und sie gab nichts davon her, sondern bewahrte es gut. Sie wurde eine sehr schöne Frau, ihr Leben war spannend und aufregend und sie dachte nicht mehr an die Engel, als sie den jungen Königssohn traf... doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
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