12 September 2006

Othala

Heim, Heimat, Vergangenes

Es war das erste mal seit Monaten an diesem spätsommerlichen Septembermittag, dass ich mich aufmachte, um die letzten noch ausstehenden Runen zu erkunden. Die letzten Monate waren so schnell und angefüllt vergangen; ich hatte weder Ruhe noch Lust verspürt, mich intensiver den Runen zu widmen. Alles Spirituelle – selbst Tai Chi! – fiel mir sehr schwer und wurde mehr oder weniger freiwillig vergessen. Nun aber ist schon der Herbst zu riechen, und als Herbstgeborene kann ich gar nicht anders, als nun in einen melancholischeren, nachdenklicheren, andersweltlicheren, aber auch klareren Fluss einzutauchen.
Und so klopften auch die Runen wieder bei mir an, und ich ließ ihnen den Willen und beschäftigte mich mit Othala.
Einer der Gründe, warum ich mich eben auch dieser Rune nicht so recht näher konnte oder wollte, war der zugeordnete Baum – der Weißdorn. Nicht, dass ich an diesem Schutzgewächs von Haus und Hof etwas auszusetzen habe; auch die arzneilichen Qualitäten finde ich sehr lobenswert. Es war auch nicht die verstörende Information, dass man früher in manchen Gegenden glaubte, ein Sarg aus Weißdorn befördere das „Umgehen“ des darin Bestatteten, sondern die Gewissheit, dass es nur recht und billig wäre, wenn ich einen Ast des großen Weißdorns verwenden würde, der neben meinem Elternhaus wächst.
Nun ist es aber so, dass ich mit dieser Vorstellung weniger Schutz, sondern eher eine Art Fessel verband; so sehr ich das Haus, die Gegend und selbstverständlich auch meine Mutter schätze, so ambivalent sind meine Gefühle, mich hier – wieder – noch mehr zu verwurzeln, als ich es bin.
Ich begann also meinen Spaziergang mit gemischten Gefühlen und der vagen Hoffung, einen Weißdorn unterwegs zu finden, der mich so ansprach, dass ich mir ein Stück von ihm statt dem am Elternhaus erbeten konnte. Ich bat wie immer Odin um Hilfe, denn ich fühlte mich eher traurig und wusste nicht recht, was mit mir und dieser Rune anzufangen – ich als bekennende Lokalpatriotin, und das absurderweise bei der Heimatrune! Doch schon bald bekam ich am Götzenstein eine schöne, kleine Überraschung zu sehen. Zwischen den Sprüngen der mächtigen magischen Steine sah ich etwas spießen – Gras? Ich ging näher hin und entdeckte, dass einige Weizenähren, die mein Lebensgefährte und ich dort um Lammas herum als Opfer niedergelegt hatten zu keimen und zu grünen begonnen hatten. Ich wässerte die kleinen Halme, dankte und opferte. Mit leichterem Herzen ging ich weiter – ich fand dieses kleine Schauspiel einen netten Wink der Göttin und Odins (oder welcher Form des Göttlichen auch immer), dass aus jedem Opfer, dass man bringt, etwas neues erwachsen kann.

Trotzdem fühlte ich mich innerlich weiter rastlos und etwas traurig. Was ist denn Heimat, dachte ich. Alles ist im Fluss, alles ändert sich – ist es nicht eine Illusion, sich an etwas wie an ein Heim zu klammern? Selbst mein Körper ist heute ein ganz anderer als vor fünf oder zehn Jahren; kaum noch ein Atom darin dürfte das selbe sein, mit dem ich vor Jahren hier entlang ging. Und das gleiche gilt für alle Bäume hier, die Gräser... na ja, vielleicht nicht für die Steine. Aber suggeriert nicht die Vorstellung von Heimat eine Beständigkeit, die es gar nicht gibt? Heimat ist etwas, was in die Vergangenheit gehört, denn die Gegenwart wechselt, ändert sich, ist unbeständig; ja, ich möchte so weit gehen zu behaupten, dass Othala die Vergangenheit ebenso sinnvoll repräsentiert wie die Heimat. Aber ist es nicht einer der vielen Gründe für Streit und Krieg und Sorgen, an dem Vergangenen festhalten zu wollen? Nicht umsonst trägt das deutsche Militär immer noch die Othalarune an der Uniform!
Und ist es nicht so oder so eine Illusion, die wir uns selbst mit jedem Jahr konstruiert haben, diese Heimat, diese, unsere Vergangenheit? Mehr als Bäume, Berge und Häuser verbinde ich mit der Heimat – und der Vergangenheit – Menschen. Aber man kann kaum an sie denken, ohne auch hier zu wissen, wie schnell man Menschen verliert; an den Tod, oder durch einen läppischen Streit; durch Auseinanderleben, durch andere Einflüsse. Und wie weh das tat. Und daran wollen wir uns klammern? Wie mixen wir daraus eine schöne Erinnerung? Ich habe mich lange genug mit Kognitionswissenschaft beschäftigt, um zu wissen, dass das, was wir als stringente Erinnerungen in uns tragen, manchmal sehr wenig mit Fakten zu tun hat. Wir retouchieren, wir blenden aus, wir erfindend dazu. Und schon ist beispielsweise die öde Dorfjugend der Inbegriff romantischer Folklore geworden, die Einsamkeit Selbstständigkeit, die Schmerzen Stärke!
So denkend, setze ich mich auf eine Bank. Ein kleiner, unsympathischer Hund ohne irgendeinen Besitzer kommt näher und kläfft mich an. Ich kann es nicht ausstehen, wenn Leute in tollwutgefährdeten Gebieten ihre Hunde frei laufen lassen! Also halte ich vorsichtshalber nach einem Stock Ausschau, um notfalls damit den Kläffer auf Anstand zu halten (womöglich hat er wirklich Tollwut?) und nehme einen langen, schlanken Ast von einem Kirschbaum. Der Hund schaut mich misstrauisch an, rennt davon. Der Ast liegt gut in der Hand, ich benutze ihn als Wanderstab und gehe weiter.
Da kommt mir plötzlich die Erkenntnis – ich MUSS nicht den Weißdorn als Runenholz nehmen! Und erst recht nicht den am Elternhaus. Zu Kirschbäumen habe ich dagegen einen engen Bezug von der Kindheit her; ich wohnte an einem Weg voller wilder Kirschbäume, die im Frühling herrlich duftend blühten, im Sommer die kleinen Früchte trugen und in denen ich mit Freundinnen meine ersten Baumhäuser und Lager baute. Das Harz der Bäume sammelte ich, um meine ersten, noch kindlichen Versuche im Räuchern durchzuführen. Hier ist ein Stück Heimat, dass mir nicht vor die Nase gepflanzt wurde, sondern eines, das ich mir selbst als Kind erobert habe.
Unterwegs zeigt mir Odin schmunzelnd einen Kirschbaum, der zwei Schlingen gebildet hat. Leicht, darin eine Othalarune zu erkennen – Odin scheint meine Wahl richtig zu finden.

Ich verstehe – ich kann selbst bestimmen, wo meine Heimat ist – und was. Wenn Heimat schon eine Illusion ist, warum dann nicht eine, die ich wirklich haben will – um mich gegen Feindseliges wehren zu können, als Halt auf rutschigen Wegen, als Stütze. Nicht mehr und nicht weniger. Mag meine Vergangenheit auch rein formal betrachtet Ungereimtheiten aufweisen – ich brauche sie, um mich heute zu begreifen, um über mich hinauswachsen zu können. Ich kann meine Vergangenheit und meine Heimat mit mir mitnehmen, überall hin; sie ist an keinen Ort, an keinen anderen Menschen gebunden. Ich erfinde mich und meine Vergangenheit, meine Heimat - und das jetzt, in diesem Moment. Ich sollte mich nicht daran klammern, wenn es mir keine Hilfe ist. Es ist mein ureigener Kirschbaumstock, doch es ist nichts weiter als ein Kirschbaumstock.
Und so breche ich ihn am Ende der Wanderung in Stücke, nehme eines mit nach Hause, um da raus ein Runenstäbchen zu schnitzen. Meine Heimat trage ich in mir. Als Mensch ist man überall zu Haus. Und nirgendwo zu Hause.


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