Das hatte auch seine Gründe, wie ich dachte, nachdem ich mehr als drei Stunden durch den tiefen Schnee geschlurft oder über vereiste Wege geschlittert war.
Zunächst besuchte ich meinen Lieblingsort, um hier Odin ein kleines Opfer zu bringen. Auch wenn ich es mit dem germanischen Pantheon nicht so habe – mit Odin verstehe ich mich inzwischen gut, und außerdem ist nun mal er für mich der Hauptansprechpartner zum Thema Runen. Ich habe immer wieder das Gefühl, dass er mir hilft, ihre Bedeutung zu erkennen. Auf dem Weg zum Opferplatz brach ich von einem Schlehdorn, der Thurisaz-Pflanze, einen Dorn ab. Eiwaz reizte mich als Rune sehr, und ich dachte, einen Tropfen Blut als Opfer könnte ich verschmerzen – und als Zeichen dafür, dass ich bereit war in mich zu gehen, wählte ich den Schlehdorn, um mich zu pieksen.
Ich ließ den Blutstropfen in die Kerze fallen und malte mit dem restlichen bisschen Blut in den Schnee eine Binderune aus Ansuz, für mich die Rune der göttlichen Führung, und Eiwaz. Damit nicht die nächsten Spaziergänger sonst etwas Entsetzliches vermuteten, deckte ich es mit ein bisschen Schnee ab und ging meiner Wege.
Das Problem, das mich auf diesem Spaziergang begleitet, war, dass ich gar nicht recht wusste, welchen Baum ich suchen sollte. Eiwaz ist eindeutig der Eibe zugeordnet – allerdings hatte ich diese schon für Algiz verwendet und es als stimmig empfunden. Da Eiwaz oft mit Yggdrasil, dem Weltenbaum gleichgesetzt wird (und dieser neben der Esche eben auch mit der Eibe), dachte ich mir, dass der ähnlich wie die Eibe giftige Lebensbaum, die Thuja, passend wäre. Außerdem waren mir die Bäume erst kürzlich stark ins Bewusstsein geraten. Da Eiwaz ja auch einen Todesaspekt hat, beschloss ich, an einem kleinen Friedhof vorbeizugehen, um dort nach einem Thujazweig zu suchen. Aber es kam anders.
Doch zunächst lief ich lange durch den Schnee. Es war so ruhig, dass ich nicht mehr hörte als das Knirschen des Schnees unter meinen Füßen. Wenn ich stillstand und den Atem anhielt, war da nur das Rauschen in meinen Ohren und, ganz selten, ein abgehakter Vogelruf oder das Geräusch von tauendem Schnee, der von einem Ast fällt. Ich grübelte über Eiwaz nach.
Ich muss zugeben, dass ich mit der germanischen mythologischen Vorstellung des Weltenbaumes sehr wenig anfangen kann. Wenn ich an den Baum des Lebens denke, ist es der der Kabbala. Alle Kabbalisten und Runengläubigen mögen ich steinigen, aber ich schob den Gedanken herum, wie Eiwaz in dem Baum des Lebens passen würde. Ein Weg von der intellektuellen Sphäre hinab in das Weltliche, dann hinauf zum göttlich und hin zur reinen Energie... nein, das ergab wenig Sinn. Ich dachte an das Zeichen. Wie oben, so unten, grübelte ich und fiel zeitgleich mit dem Gedanken auf den Hintern – was mich ziemlich amüsierte. Odin hilft gerne mit den Runen, aber zu viel spekulatives Nachdenken macht ihn, so scheint es, ungeduldig. Lass geschehen, sagt er einem, wenn man wie ich so oft zu verkopft an die Runen herangeht..
Der nächste Gedanke kam mir etwas gehaltvoller vor – Eiwaz kann man auch als eine Binderune aus Laguz und ihrer gewendeten und auf den Kopf gestellten Version ansehen.
Laguz gewendet und auf den Kopf gestellt - nicht nur der Blick hinab in die Seen des Unterbewusstseins, sondern auch das, was von alleine hoch kommt. Eine Verankerung zwischen oben und unten, bewussten und unbewussten Anteilen der Persönlichkeit. Könnte Eiwaz, das neben der Bedeutung des Lebensbaumes auch die des Rückenrates, der Kundalinienergie darin hat, diese Sphären verbinden? Laguz ermöglicht es uns, unsere Emotionen anzusehen, von oben einen Blick darauf zu werfen; doch Eiwaz bedeutet auch, dass diese Kräfte von alleine und ungebeten hinaufkommen.
Eiwaz ist zudem die Rune, die einen Wolfshaken oder eine Wolfsangel symbolisiert – eine brutale alte Falle für Wölfe (zum Thema Wölfe und wieso alle „Esos“ diese schönen, aber nicht besonders kuscheligen Raubtiere süß und bemitleidenswert finden, muss ich irgendwann noch mal was schreiben). Der Wolf war für unsere Vorfahren ein gefährliches Wesen und mit so ziemlich allen Vorstellungen des Bösen und Dämonischen behaftete, die es gibt (man konsultiere dazu das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens). Der Wolf steht außerdem in der gängigen Symbologie, ähnlich wie der Hund, für unsere destruktiven, wilden, unmoralischen Triebe. Die Wolfsangel, die es uns ermöglicht, diese Triebe wahrzunehmen und sie – ja eben nicht nur einfach zu akzeptieren und zu integrieren, sondern auch jene, die man nicht dulden kann und will, zu bekämpfen. Bevor ich Trieben wie meinen Wünschen, zu töten oder den Tod zu suchen gedankenlos nachgebe, darf und sollte ich, so meine ich, eine Wolfsangel dafür auswerfen, sie fangen und, wenn es sein muss, töten. Vielleicht muss ich ihn auch zähmen. Bedenke wohl, was du tust, wenn du einen Wolf an der Angel hast... aber denke nicht zu lange nach! Tu etwas!
Nach langem Laufen kam ich, schon recht erschöpft, an dem kleinen Friedhof an, den ich auf dem Weg eingeplant hatte. Zuvor schon hatte ich eine schöne, große Thuja gesehen – leider in einem
eingezäunten Garten. Doch als ich den kleinen Friedhof in Augenschein nahm, war ich zunächst enttäuscht. Keine Thuja! Ich zögerte kurz, ob ich einfach weitergehen oder mich genauer umsehen sollte; außerdem schimpfte ich ein bisschen im Geist mit mir selbst. Was sollte ich denn auch machen, selbst wenn ich da eine Thuja gefunden hätte? Vor den samstäglichen Friedhofsbesuchern in Ruhe einen Ast davon absäbeln? Mit solchen Gedanken und dem sperrigen Beutel mit den knospenden Pappelästen - siehe Perthro 2 - in der Hand ging ich den Zaun am Friedhof entlang. Da sah ich, dass doch einige eher unansehnliche Thujabüsche am Rand des Gräberfeldes wuchsen. Unschlüssig schlich ich weiter um den Friedhof herum – da erspähte ich in einem Grünschnittbehälter einige Äste, die auf den ersten Blick nach Thuja aussahen. Doch ein zweites Hinsehen sagte mir, dass dies eine andere Art Nadelbaum war. Ich wollte schon umdrehen, als ich fasziniert einen sehr merkwürdig geformten Baum sah.
Ich ging näher und betrachtet ihn eingehend. Mit etwas Phantasie konnte man hier sogar eine gekippte Eiwazrune erkenne! Das ist er, dachte ich, und merkte schnell, dass dies auch der Baum war, von dem die Äste stammten, die sich im Grünschnitt befanden. Also klaute ich hoffentlich unbemerkt einen davon und nahm mir ein Stückchen mit.
Nun liegt es bei mir zum Trocknen, spannend und unerkannt, denn – noch weiß ich trotz Recherche nicht genau, was für ein Baum dies ist. Er muss auf jeden Fall zu den Zypressengewächsen und Urweltpflanzen gehören; am ehesten zeigt er Ähnlichkeit mit einer Taiwanie, das ist eine asiatische Zypressenunterart.Nun, ich will ja auch nicht zu pingelig sein; Zypresse passt schon, denn was las ich in meinem bereits erwähnten Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens?
Neben allerlei positiven Bedeutungen vor allem aus dem Mittelmeerraum und Persien, in der die Zypresse zwar auch ein Todes- und Unsterblichkeitssymbol war und daher oft auf Friedhöfen gepflanzt wurde, war dies auch eine Pflanze, die vielen Göttern zugeordnet war, unter anderem Aphrodite und Astarte. Und in der Volksmedizin glaubte man, es helfe unter anderem gegen den - Wolf (also die Krankheit).
***
Anmerkung - offenbar handelt es sich um eine japanische Sicheltanne aus der Familie der Zypressen:
Sicheltanne
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen