Diese Rune hat sich mir nicht in einem kurzen und nachdenklichen Spaziergang erhellt wie so manche andere hier, sondern ist langsam in den letzten Wochen in mir gereift. Trotzdem bezweifle ich, dass ich alle oder auch nur die wichtigsten Aspekte der Rune erfasst habe. Ich möchte mich dennoch an den Versuch wagen, meine Erfahrungen mit ihr darzustellen.
Algiz ist mit bewusst (von ein paar Naziinsignien im Schulunterricht abgesehen) als erste der Runen über den Weg gelaufen. Damals war ich 15 Jahre alt und musste mich dem Vorwurf stellen, mein Hippie-Peacezeichen um den Hals sei eine böse „Todesrune“. Tatsächlich habe ich später widersprüchliche Hinweise gefunden, die in der umgedrehten Algizrune durchaus eine „Todesrune“ sehen. Auch ist Algiz eine der ersten Runen, die ich (in aufrechter Form) bewusst verwendet habe, um eine schützende Binderune für meine Wohnung herzustellen. Sie symbolisiert den Elch, ein mächtiges schützendes Totem.
Ich habe mich aber über den ihr zugeordneten Baum an Algiz angenähert. Und als mir ein Stück Eibenholz in der richtigen Runenstabgröße buchstäblich vor die Füße fiel, weil ich „zufällig“ vorbeikam, als im hiesigen Stadtpark eine Eibe abgesägt wurde, merkte ich schon, dass ich auf dem richtigen Weg war.
Die Eibe ist einer der zähesten, unverwüstlichsten und zugleich giftigsten Bäume, die in Deutschland wachsen. Alles bis auf das Fruchtfleisch ist hochgiftig und enthält neben leicht aufputschenden Substanzen diverse Giftstoffe, die aber auch kontrolliert in der Krebstherapie eingesetzt werden. Interessanterweise findet sich dieser Baum nicht nur häufig auf Friedhöfen, sondern auch in öffentlichen Grünanlagen – ich weiß noch genau, dass eine riesige Eibe vor dem Fenster meines Klassenzimmers in der Grundschule stand. Stand die Eibe dort als Baum des Schutzes über die Kinder, die sich begeistert mit den „Klebfrüchten“ bewarfen?
Auch wurden (und werden) die besten Holzbögen aus dem unglaublich harten und dennoch flexiblen Eibenholz hergestellt. Das Eibenholz sieht zudem sehr hübsch aus, da das honigfarbene Holz einen rötlichen Kern hat. Die Eibe auch wurde oft als Symbol für den Tod und den Übergang in jenseitige Welten gesehen. Sie ist, wie manche anderen Bäume auch, ein Wächter auf den Schwellen zur Anderswelt. Sie lehrt, sich den Unterwelten im menschlichen wie auch göttlichen zu stellen. Sie bietet, so lese ich, den nötigen Schutz, um solch eine Reise zu wagen.
Doch auch, wenn ich in den letzten Wochen viel um Eiben herumstreunte und versuchte, von diesen Bäumen eine Botschaft über Algiz zu erhalten – sie bleiben stumm. Die Rune verbarg sich weiter in den vielen Bedeutungen, ein betender Mensch mit erhobenen Händen? Ein Schutzsymbol wie das christliche Kreuz mit aufgebogenen Enden? Eine schützende Hand, vielleicht von Tyr? Ein Elchgeweih?
Ich weiß es nicht. Ich kann die Rune zwar wunderbar auf meiner Stirn visualisieren und fühle mich damit beschützt, aber es ist kein kuscheliges Glühen des Herdfeuers wie Ing oder aktive zubeißende Kampfbereitschaft wie Thurisaz. Es bleibt fern und vage.
So dachte ich nach, und so ging inzwischen der November ins Land und die entsprechende Stimmung setzt sich in den Menschen fest. Wie Raureif legte sich die Erkenntnis des nahenden Winters über die Seelen, auch meine. Die eine oder andere kleine Reise in meine ganz persönlichen Unterwelten habe ich in letzter Zeit, vor allem um Samhain herum, unternommen. Manchmal habe ich mich dabei ertappt, dass mich danach vollkommen hautlos und schutzlos fühle. Die Menschen, die ich liebe und achte, waren in meinem kleinen Universum der Sorge und des Kummers weit weg, alles, vor allem in beruflicher Hinsicht, war ungewiss und unerfreulich. Und dann glomm doch in mir ein Licht auf, langsam stieg und steigt es seitdem hoch, und mir wird zögernd bewusst, dass ich gar nicht schutzlos und allein bin. Dass die Liebe, die Freundschaft, die Hoffung und alles, was mir kurzzeitig so sehr abging, immer da sind, nur verborgen. Beruflich erhielt ich eine gute Neuigkeit, privat fühle ich, wie alle wieder nah zu mir kommen, und kann mich wieder öffnen.
Ich denke, man muss immer wieder kleine Tode sterben, um das Leben frisch umarmen zu können, um weiterzukommen und sich bewusst zu machen, was hinter all den alltäglichen Oberflächlichkeiten das wahre Selbst ist – auch wenn das einem oft recht klein, ängstlich und mager vorkommt, das Ich hinter den Masken.
Und so glaube ich – und es kann gut sein, dass ich diese Erkenntnisse später noch vertiefen und ergänzen werde - dass Algiz eine unheimlich starke und doch sehr stille, geheimnisvolle Rune ist, die im Verborgenen wirkt und uns hilft, Hüllen abzustreifen, uns unseren Ängsten zu stellen, aber auch, sie zu überwinden und uns an ihr wieder hinauf zu Lebensfreude und Erfüllung zu ziehen. Wir bemerken vielleicht gar nicht, was da geschieht, und irgendwo sitzt – Odin? Die Göttin? Unser Selbst? Ein Christ würde wohl sagen – Jesus? Gott? – und lächelt auf uns herab und räumt, ohne dass wir es bemerken, ein oder zwei Hindernisse von unserem Weg.
Danke.
4 Kommentare:
Wie schön du deine "Erfahrungen" doch
immer wieder in Worte fassen kannst.
Auf alle Fälle konnte ich beim Lesen richtig mitfühlen und verstehen.
Danke,
Amber
Danke für diesen *wiedermal* wunderschönen Beitrag!
Fein auch, daß Du den Runen (und Deinen LeserInnen) ein eigenes Menu eingerichtet hast. Das wid hier ein richtig cooles Online-Nachschlagewerk für die intuitive Runenarbeit :-)
LG BärenSchwester
Danke euch für die netten Kommentare!
:-)
Bodecea
Das war bestimmt das Beste, das ich zum Thema "Algiz" je gelesen habe. Respekt! Machen Sie weiter so!
Grüße aus Südtirol
Martin
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