Die Bedeutung der Rune Tyr – Kampfgeist, Entschlossenheit, Zielstrebigkeit, Gerechtigkeit – war, wie ich fand, zwar leicht zu erraten, aber ich hatte mal wieder Probleme, ein bisschen tiefer in Tyr einzudringen (obwohl das Eindringen wohl eher Tyrs Sache ist).
Das liegt auch daran, dass diese Rune nach einem germanischen Kriegsgott benannt ist, und ich mit jenen allgemein und mit diesem im besonderen nicht sehr viel anfangen kann. Tyr ist ein Gott des Krieges, der bei der Fesselung des Fenriswolfes half, indem er, um diesen zu besänftigen bei der vermeintlich nur als Wettbewerb zu verstehenden Fesselung, dem Wolf eine Hand in den Mund legte und diese verlor, als der Wolf, nun gefesselt, zuschnappte. Für mich ist da neben Heldenmut und Opferbereitschaft auch ein gewisses Maß von mangelnder Fantasie mit im Spiel – und ganz ehrlich war die Geschichte von Götterseite eigentlich auch nicht – aber sei’s drum. Um mich von dem Bild eines muskelbepackten einarmigen Germanen mit Hörnerhelm vor der Kulisse der Heidelberg Nazi-Thingstätte (Tyr war auch für die Thingveranstaltungen zuständig, las ich irgendwo) zu lösen, bat ich Odin, mir eine für mich eingängigere und spirituell befruchtende Interpretation zu schicken, und machte mich auf zu einer längeren Wanderung, an deren Ende ich einen Ort aufsuchen wollte, wo Stechpalmen wachsen.
Im Laufen denkt es sich am besten.
Zunächst dachte ich an die Form der Rune. Ein Pfeil. Das ist für mich ein Symbol dafür, etwas auf den Punkt zu bringen, die Kräfte zu konzentrieren und fokussieren im richtigen Moment sein Ziel anvisieren und loslassen. „Zufällig“ sah ich dazu am Abend noch einen Bericht über die japanischen Zen-Bogenschützen, wo das Bogenschießen zu einer meditativen Übung geworden ist. Außerdem sieht Tyr aus wie eine Mischung aus Is und Kenaz – oder wie eine gespiegelte Laguzrune. Hm!
Dann dachte ich an die Lautähnlichkeiten. Wenn man mag, kann man - ähnlich wie der Kabbalist zwischen Worten mit gleichen Buchstabenwerten – Verbindungen zwischen ähnlichen Worten herstellen, bei denen Buchstaben vertauscht sind oder ähnlich klingen. Bei Tyr ist das zum einen die Tür. Türen öffnen neue Wege, Türen verschaffen den Zugang zu etwas, die „doors of perception“ machen neue Erfahrungen möglich. Das könnte eine Bedeutungseben von Tyr sind – der Sprung (oder Flug) in etwas Neues, das Öffnen und Katalysieren einer Situation.
Zum anderen fällt einem natürlich auch das Tier ein. Hier ist es interessant, dass dieser Ausdruck zwei widersprüchliche Elemente beinhaltet. Einerseits ist er negativ besetzt – tierisches Verhalten ist gewalttätig, unmenschlich, „nieder“ und unmoralisch. Wer isst oder sich paart wie ein Tier, der hat keine Kontrolle über seine Instinkte.
Zum anderen sind wir Menschen Tiere – Säugetiere. Wir sind nicht nur Geist und abgehobene Moral, wir sind eben auch Körper und Instinkt, Natur und Intuition. Dieses Gegensatzpaar erinnert mich wiederum an die Tarotkarten des Teufels – auch ihm wurden „böse“ tierische Züge zugeschrieben, sowohl im Verhalten wie auch im Aussehen. Und dennoch, wenn man modernen Auffassungen der Karte folgt, steht der Teufel eher für die allgemeine vitale, kompromisslose und egoistische Lebensenergie – inklusive ziemlich viel Sexualität!
So dachte ich vor mich hin. Nach ein paar Stunden kam ich unweit der Stelle heraus, wo ich das Holz für die Uruz-Rune gesammelt habe. Ich wusste, dass es hier Stechpalmen gab; ein seltsamer Ort, wo der Boden oft wie gefegt aussah und irgendwer – Kinder? – aus Holz Kreise gelegt hatte. Ich wollte unbedingt hier einen Zweig holen, da ich die Runen Uruz und Tyr als eng verbunden wahrnehme - nicht zuletzt, weil wir sie gemeinsam gezogen haben.
Ich wandte mich den Stechpalmen, die dort standen, zu.
Die Stechpalme ist eine Pflanze, die man automatisch mit dem Winter assoziiert. Ich sehe ihn als ein Symbol der dunklen Göttin, die den Tod bringt, und des Wintergottes, der auf der anderen Seite der Realität ist. Die Verbindung zwischen Tyr und dieser Pflanze fand ich gleich eingängig und stellte sie nicht in Frage. Krieg, Kampf und Tod – und ein bisschen wie ein (Sieger-)Lorbeer sieht die Pflanze ja auch aus. Ein dorniger Sieg allerdings.
Überrascht stellte ich auch nach intensivem Suchen fest, dass kein abgestorbener Ast aufzufinden war, den ich hätte mitnehmen können. Und auch einfach so abbrechen konnte ich keinen Ast, da die Äste sehr biegsam waren und mir die stacheligen Blätter die Finger zerpieksten. Ich sah, dass die Äste dort, wo sie den Boden berührten, oft in diesen einzudringen (und zu wurzeln?) schienen, an diesen Stellen kamen auch neue kleine Pflanzen hervor. Gut, dachte ich, diesmal will der Baum einen kleinen Kampf, und ich fing an, mit meinem Messer (was ich nun schon seit ungefähr 20 Jahren mit mir rumschleppe, wenn ich draußen unterwegs bin), einen Ast abzusäbeln. Das ging schwerer als erwartet. Ich zerstach mir die Finger und kam kaum voran. Dann nahm ich intuitiv aus meiner Tasche einen Apfel und meine Wasserflasche, um dem Baum, dem ich etwas nehmen wollte, ein kleines Opfer darzubringen (neben den 1-2 winzigen Tropfen Blut, die mir der Baum schon genommen hatte). Seltsam – nachdem ich auch den Ast, den ich abschneiden wollte, mit Wasser besprengt hatte, ließ er sich rasch schneiden und dann abbrechen. Das ist auch eine Form von Gerechtigkeit, dachte ich – ich will von dem Baum etwas haben, muss dafür aber auch etwas geben.
Was habe ich also von Tyr und meinen Gedanken lernen können? Odins Botschaft für mich war klar.
Du musst bei Tyr nicht gleich an phallokratisches tumbes kriegstreiberisches Machotum denken. Es gibt viele Arten der Auseinanderssetzungen, und sieh, was die Lautähnlichkeit und die Stechpalme dir zeigen – man kann beschützt sein durch seinen stacheligen Panzer, aber wirklich wichtig ist es, lebendig zu sein, konzentriert und biegsam - man denke an die asiatischen Kampfsportarten! Das Tier ist eins mit seinem Körper und seinem Instinkt und kann daher so schnell reagieren. Diese Instinkte, zusammen mit der Fähigkeit zu großer Konzentration und dem Gefühl für den rechten Augenblick, machen einen guten Krieger aus. Aber er muss, anders als das Tier, in Verbindung zu seinen tiefen Gefühlen stehen, nicht nur Adrenalin und Gedanke sein. Die Gefühle sind die Hälfte seiner Kraft, und kennt er sie nicht, schwächen sie ihn und machen ihn verletzbar – so wie die Stechpalme, die benetzt plötzlich leichter zu verletzen war.
1 Kommentar:
ich find deine gedankengänge immer wieder inspirierend - vieles davon kann ich für mich nachvollziehen, übernehmen. danke dir dafür.
grüsslies
zauberweib
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