05 Juni 2006

Hagal

Die Rune Hagal - Hagalaz hat mich spontan ziemlich stark angesprochen – vielleicht, weil eine meiner Lieblingsbands sie im Namen trägt (Hagalaz Runedance); vielleicht, weil sie die letzte Rune des Jahresthemenkreises war, zu dem ich bei den 13Monden eingestiegen bin, ohne mich allzu intensiv mit ihr zu befassen; vielleicht auch – und das halte ich für das wahrscheinlichste – weil ich die Selbstinszenierung meines Lebens ganz gerne in heroischen und schicksalhaften Vokabeln beschreibe. Schicksal! Hah! Vor meinem inneren Auge mit wehendem Haar und Schwert in der Hand auf einem Hügel stehen! Amor Fati!

Die vordergründige und sofort einleuchtende Bedeutung der Rune ist: Hagalaz steht für das – zumeist unangenehme – Eingreifen des Schicksals in unser Leben. Wie der Hagel die Ernte und damit die Zukunftssicherung eines Landwirtes mit einem Schlag zerstören kann, kann Hagal unserer Lebensgewissheiten, unserer Sicherheiten und Pläne mit einem Schlag zunichte machen. In dieser Bedeutung sehe ich Hagal durchaus als der Tarotkarte „der Turm“ ähnlich. Auch wenn die Bedeutung nicht unbedingt so negativ sein muss, steht sie zumindest zwiespältig für das Eingreifen des Schicksals in unsere Lebenslinien.

Aber, unter anderem inspiriert durch eine Runenreise Brujitas, bin ich auf einen anderen Gedankenpfad gekommen, den ich bei einem beschaulichen Runenspaziergang vertieft habe. Brujita schrieb, sie sehe Hagal, Iss und Naudiz als zugeordnete Runen zu den drei Nornen Urd, Werdani und Skuld. Hagal ist dabei Urd, der Norne der Vergangenheit zugeordnet.

Bei diesem Spaziergang hielt ich Ausschau nach der Eberesche, dem Baum, der nach einer der verschiedenen Entsprechungstabellen der Rune zugeordnet ist. Die Eberesche oder auch Vogelbeere hatte zu meinen Erstaunen laut dem Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens sowohl in der germanischen Mythologie als auch im deutschen „Volksglauben“ eine große Bedeutung; man sah sie durch die ähnliche Blattform, wie schon der Name zeigt, als mit der Esche verwandt an. Die Esche wiederum ist der Baum, der Odin und Ansuz zugeordnet wird bzw. werden kann. Auch ist die Vogelbeere eine Zauberbaum, der – in dieser Hinsicht mit zwiespältigem Ruf – der Hexerei zugeschrieben wird, öfter jedoch steht er für – Schutz.

Ich ging also bei kühlem Frühsommerwetter mit rasch ziehenden Wolken in der Nähe meines Elternhauses los. Ich fühlte mich sehr stark dem Spirituellen offen dabei, was auch an einem sehr schönen Ritual gestern gelegen haben mag. Schon nach wenigen Schritten sah ich, dass Eschen und auch Ebereschen in großer Zahl meinen Weg begleiteten. Früher, so wusste ich, stand auch eine Eberesche vor dem Haus meiner Eltern. Der Bezug zur Vergangenheit war damit für mich deutlich. Schnell und unproblematisch fand ich einen geeigneten Ast.

Die Vergangenheit, MEINE Vergangenheit, dachte ich, inspiriert durch das Bild der Schicksalsfäden spinnenden Nornen, ist so etwas wie ein Gewebe. Ein Gewebe, das unser Leben bestimmt, ja, uns eigentlich vollkommen ausmacht. Das Schicksal hat darin viele Fäden verwoben; manche haben unsere Mitmenschen eingewirkt, manche wurden durch sogenannte Zufälle hinzugefügt. Viele davon haben wir, ob nun bewusst oder unbewusst, selbst eingeflochten. Daraus ist ein ganz persönliches Muster entstanden – sozusagen der individuelle Tartan, wie man die Clanmuster bei den schottischen Kilts nennt.

Und an vielen Stellen ist dieses Muster nicht unbedingt so, wie wir es uns gewünscht haben. Manchmal ist es ein düsteres Muster oder aber viel zu grell und bunt. Manche – aber zu den Menschen gehöre ich nicht – finden ihren Lebensstoff öde und grau und langweilig. Nun bin ich in der vorteilhaften Lage, dass ich trotz einiger aufregenden und auch schmerzlichen Erfahrungen in meinem Leben frei von großartigen Traumatisierungen bin. Mir wurde niemals furchtbare Gewalt angetan, auch musste ich keine entsetzlichen Krankheiten überstehen. Bis auf den zu frühen Tod meines Vater vor einigen Jahren habe ich mir den Stoff zu einem großen Teil selbstgewebt – oder habe zumindest das Gefühl, selbstbestimmt so gehandelt zu haben.

Das wichtigste in meinem persönlichen Hagal-Tartan sind zwischenmenschliche Beziehungen, und ich kann guten Gewissens sagen, dass trotz Streitigkeiten, beendeten und schmerzlichen Beziehungen in meinem Leben, ob nun familiär, freundschaftlich oder intim, keine dabei ist, bei der ich der Person ernstlich noch etwas nachtrage. Ich sehe die bunten, schwarzen und hellen Fäden, die diese Menschen in mein Leben eingesponnen haben, und ich denke mir auch bei der bittersten Enttäuschung, die mir ein Mensch zugefügt haben mag, dass ich daraus gelernt habe und gewachsen bin und die geworden bin, die ich heute nun einmal darstelle. Es gibt keinen Teil von meinem Lebensstoff, den ich nicht anschauen möchte oder verachte. Und wenn ich genauer hinsehe, erkenne ich auch gewisse Muster. Wie viel von Konstellationen in meinem Leben, die immer wieder auftauchen, sind Teil meines „Karmas“? Wie viele davon – und ich glaube, es sind viele – habe ich aufgrund meiner Erfahrungen und Persönlichkeit unbewusst selbst immer wieder hineingewoben?

So kreuzen sich Fäden unserer Leben in schicksalhafter Weise, wie sich auch der Querstrich über die beiden senkrechten Strichen der Rune kreuzt (oder in der anderen Darstellung – wie sich die drei Stäbe kreuzen). Ich denke, wenn man diese Rune zeiht, heißt das, das ein wichtiger und entscheidender Teil in unser Gewebe eingefügt wird, der uns in der Zukunft beeinflussen und prägen wird.

Aber ich dachte mir – ist es nicht auch ein gutes, ein erhebendes Gefühl, dass man selbst – oft leider auch hässliche Fäden und Muster, aber sicher auch schöne und wichtige Teile – in das Muster anderer eingewoben hat? Und diese weben sich wiederum in andere Muster, und diese in weitere... und so gibt es immer Fäden, die bei uns zusammenlaufen und verbinden.

Sogar dann, wenn wir einmal nicht mehr sein werden.

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