18 Mai 2006

Iss - Eis

Es hat diesmal lange gedauert, bis ich wieder in Sachen Runen unterwegs war. Das lag nicht zuletzt an der Kombination der beiden Runen, die als nächstes anstanden; Iss war für den nun mit Macht einsetzenden Frühling und Frühsommer auf den ersten Blick absolut unpassend, für Wunjo wiederum fehlte mir in letzter Zeit die Aufnahmebereitschaft für das Schöne und Genussvolle.

Dennoch habe ich die letzten Wochen genutzt, um immer wieder über die beiden Runen nachzudenken.

Gestern war ich dann so weit, mir für die Iss-Rune ein Stöckchen aus dem zugeordneten Baum, der Schwarzerle, zu suchen. Dieser Baum wächst fast nur in Wassernähe. Sein Holz ist sehr ölhaltig und damit für wasserabweisende Zwecke geeignet, aber ansonsten nicht sehr wertvoll; der Erle schreibt man im Volksglauben vor allem negative Dinge zu; so sollen Hexen mit Erlenholz Wetterzauber betreiben.

Der enge Bezug der Erle zu Wasser passt zu der in meinen Augen engen Verbindung der Rune Iss zu der Rune Laguz. Iss ist dabei in Form (und das Eis in der germanischen Mythologie generell) die grundlegendere Substanz als Wasser – man denke an die Antagonisten Eis und Feuer in der germanischen Mythologie. Mir fällt es nicht leicht, diesen Gedankengang nachzuvollziehen; ich sehe doch eher im fließenden, nicht im gefrorenen Wasser den Urzustand.

Und auch, wenn man diese Rune und die Schwarzerle wohl leichter an einem zugefrorenen Bach an einem Januartag hätte entdecken können, stapfte ich einen kleinen, hauptsächlich mit Erlen bestandenen Wiesenbach entlang. Ich dachte nach, während ich mich durch die widerspenstige Umgebung aus hohen Gras, Moder, Unkraut und Insekten kämpfte. Ich fand zahlreiche abgestorbene, aber noch nicht morsche Äste an den Bäumen; dennoch hätte ich zuerst beinah einen kahlen Kirschbaumzweig erwischt, der sich zwischen Erlenäste geschoben hatte. Ich ging an einer geeigneten Stelle an das Wasser und kostete es, da ich düster in Erinnerung hatte, der Bach habe eine gute Wasserqualität. Aber das Wasser schmeckte bitter und sehr unangenehm; ich spuckte es sofort wieder aus.

Von weitem wirkte die Umgebung malerischer.

Iss, dachte ich, ist in Verbindung mit Laguz gesehen natürlich in erster Linie gefrorenes Gefühl. Ich dachte an das alte NDW-Lied Eiszeit – „alle Gefühle tausendmal gefühlt -
tiefgefroren – tiefgekühlt“. Wenn man seine Gefühle auf Eis legt, macht man sie und damit sich unangreifbar. Nicht zuletzt deshalb wird Iss oft als Abwehrrune verwendet, damit Schadenszauber einen nicht berühren – besonders, wenn man sie selbst ausgesprochen hat. Meine erste Visualisierung von Iss fand statt, als ich mir spontan einen Schutzwall von Runen ausdachte. Dabei sah ich das Bild einer bläulich-eisigen Iss-Rune, die in einem alles aufrecht und geschützt hält, mit vier Thurisazrunen außen herum, die Spitzen aggressiv nach außen gedreht.

Und wenn mich jemand ärgert oder bedroht , „friere ich ihn ein“ – sprich, ich stecke einen Zettel mit dem Namen der Person in meine Tiefkühltruhe. Ein einfacher Küchenzauber im wahrsten Sinne des Wortes, der gar nicht so schlecht funktioniert.

Iss ist der Grundstock vieler Runen. Es bildet sozusagen das Rückrat; aber Iss allein ist steif und unbiegsam, es bricht leichter, als dass es sich beugt. Das kann manchmal notwendig sein, wenn man unbeugsam sein muss; aber generell sehe ich in der Gefahr, die das reißende Wasser für uns bedeutet, das kleinere Übel.

Dennoch bin ich bei meinem Spaziergang zu dem Gedanken gekommen, dass es keinen Maßstab gibt, mit dem man die guten oder schlechten Eigenschaften Iss bewerten kann, als den der Natürlichkeit. Iss ist nicht böse oder schlecht oder falsch; nicht böser oder schlechter oder falscher, als es Dunkelheit in der Nacht ist oder Kälte im Winter oder der Tod am Ende des Lebens. Wasser fließt nun mal im Sommer und friert im Winter. Es ist normal, dass auch in einem selbst Zeiten herrschen, in denen man glaubt, in einen Eisblock eingefroren zu sein, unverletzbar, aber auch unbeweglich und unberührbar. Man kann nun, wo alles stillsteht, im klaren Eis manche Dinge erkennen, die man im wirbelnden Wasser gar nicht erfassen kann.

Diese Winter der Seele dauern zum Glück nicht so lange wie die realen in der Natur, aber wenn sie anstehen, kostet es sehr viel Energie, diesen Zustand gegen die innere Logik aufzuheben und das Eis zu schmelzen. Ebenso ist es mit großem Energieaufwand verbunden, das fließende und emotionale in sich gegen die natürlichen Rhythmen der Seele einzufrieren. Ich habe bei dieser Rune, nicht zuletzt vom Aussehen her, viel an die Tarotkarte des Turmes denken müssen; Iss ist so ein Turm, den wir für uns mit viel Mühe und Kraft bauen, um darin sicher – leider aber auch ausgeschlossen und unbeweglich – zu sein.

Wird Iss gebrochen, statt dass es schmelzen kann, kann dies schmerzliche Splitter verursachen. Wurde Iss zu intensiv in sich selbst herangezüchtet, zu lange die eigene Emotionalität gegen ihren eigenen Rhythmus eingefroren, kann man mit einer ziemlich hohen Flutwelle rechnen, wenn dieser Eisblock schmilzt oder geschmolzen wird. Letztendlich sind Versuche, den eigenen Gefühlen durch einfrieren zu entkommen, nur ein Aufschieben, sich damit zu beschäftigen. Friert es von alleine, ist er Aufschub vielleicht nötig – manchmal müssen Menschen kalt in schlimmen Situationen bleiben, um überleben zu können.

So dachte ich und nahm mit einen geeigneten Ast mit.

Und weil Odin Humor hat und meine düsteren Gedanken aufhellen wollte, fuhr auf meinem Rückweg ein Eiswagen vorbei.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

was für eine Runenarbeit mal wieder...
schwer beeindruckt nehme ich ein paar Gedanken daraus mit in den Schlaf :-)
LG BärenSchwester

Anonym hat gesagt…

Danke für deine Runenarbeit. Zu so später Stunde freue ich mich jetzt auf den morgigen Waldspatziergang und gehe schmunzelnd über den Eiswagen ins Bett!

Lieben Gruß
Wurzeline.