Um mich Laguz und dem zugeordneten Baum, Weide zu nähern, lag es selbstverständlich nahe, ein Gewässer aufzusuchen. Leider ist die Gegend hier mit schönen und einsamen Wasserstellen nicht gerade reich gesegnet; ein Baggersee in Autobahnnähe? Ein begradigter Bach zwischen Schrebergärten? All das gefiel mir nicht sonderlich.
So beschloss ich spontan bei einer kurzen Spazierfahrt durch den Odenwald, unweit meines Elternhauses einen kleinen, ruhigen Fischteich zu besuchen. Ob ich dort meditieren und ein Stück Weide suchen wollte, wusste ich noch nicht und wollte es von meiner Stimmung abhängig machen.
Leider störten schnell einige Spaziergänger mit ihren Hunden, vermutlich von einer nahegelegenen Gaststätte, meine Ruhe. So beschloss ich, dem kleinen Wildbächlein, das malerisch an großen Findlingen vorbei durch den Mischwald plätschert und in dem Teich mündet, zu folgen und mir da einen Ort zur Ruhe oder zumindest ein Stück Weide zu suchen. Dabei dachte ich über das Wasser und die Weide nach.
Das Wasser steht, wie man sozusagen im ersten Schuljahr „Esoterik“ lernt, für das Unbewusste, für die Gefühle und Emotionen. Es ist dem Weiblichen zugeordnet. Wasser ist, wie Lao Tse in seinen Versen immer sehr schön beschreibt, das weiseste, nachgiebigste und zugleich stärkste Element; es passt sich immer seiner Umwelt an, ist sich nie zu schade, den tiefsten Punkt anzusteuern, es füllt alles gleichmütig aus, aber es ist stärker als jeder Fels.
Mein Spaziergang führt mich an wunderschönen Stellen vorbei, wo die Sonne auf den bemoosten Steinen strahlt und das Wasser in munteren kleinen Strudeln vor sich hin plätschert. Es führt mich auch an sumpfigen schwarzen Quellgebieten vorbei, bei denen man aufpassen muss, nicht plötzlich bis zum Knöchel im Schlamm zu versinken. Ich kämpfe mich durch hüfthohe Brennnesseln und denke, hier ist doch Wasser – muss hier nicht eine Weide sein? Ich komme auch bald an einer vorbei, ein riesiger Baum, doch die Äste beginnen viel zu weit oben, um einen abzubrechen, und am Boden kann ich keinen entdecken. Das kenn ich doch von Ansuz, denke ich. Man soll gut suchen und es sich nicht zu leicht machen. Na, Odin, was jetzt, sag ich leise zu mir, und beschließe dann, dem Bach weiter in Richtung Quelle zu folgen. Gleich erscheint mir das sinnvoll.
Wie soll man ein Gefühl verstehen, wenn man ihm nicht im Geist bis zu seinem Ursprung folgt? Wenn man nicht sieht, wo es sich aus einem Gemisch von Erde und Feuchtigkeit, von Körperlichem und Seelischem herauswindet? Wenn einem nicht bewusst wird, wie es sich ununterbrochen ändert und doch immer das gleiche bleibt?
Ich sehe im Quellbereich einige schöne und große Weiden stehen... inzwischen schwitze ich, bin durstig und muss pinkeln. Das Wasser in mir sagt Hallo! Aber wie soll ich an den Quellbereich gelangen? Er liegt in einer steilen und unwegsamen Talsenke und ist an den meisten Stellen sehr modrig. Das sind die Schwierigkeiten mit dem lebensspendenden Wasser, denke ich mir. Es selbst ist so sanft, so nachgiebig. Aber zusammen mit der Erde kann es tückische Sümpfe bilden, zusammen mit der Luft gefährliche Strudel, zusammen mit dem Feuer Dampf, Wolken und Unwetter. Wenn es gegen die Erde kämpft – man denke an den Tsunami letztes Jahr – hat die Erde keine Möglichkeit, sich zu wehren. So, wie auch unser stiller See der Emotionen erst durch die Gedanken, den Körper oder den Willen zur Macht zum brodeln und schäumen kommt, lebendig wird, aber seine Klarheit verliert. So, wie der Körper durch unsere Gefühle jederzeit niedergezwungen wird, wenn sie gegeneinander arbeiten. Ist das die beängstigende Komponente von Laguz? Ist diese Hilflosigkeit der großen starken Germanen, die an Runen herumritzten, gegen diese sanfte unwiderstehliche Kraft der Grund für die Zwiespältigkeit von Laguz? Eine neue alte Angst, die uns heute immer noch in den Wahnsinn, zum Psychotherapeuten und in die Krankheit treibt?
Doch am gefährlichsten ist das Wasser, wenn man es nicht erreichen kann. Wenn man dürstet und es vielleicht schon vor sich sieht und dennoch sich vergeblich nach ihm sehnt.
Ich finde einen Weg zu den Weiden und suche zwischen den herabgefallenen Ästen nach einem geeigneten Stück. Viele sind morsch und zerbröseln zwischen meinen Händen. Auch das ist Wasser, denke ich. Ohne es könnte keiner der Bäume hier stehen. Doch zugleich schwächt es die Bäume, macht sie morsch und verletzlich.
Ich finde einen geeigneten Ast und mache mich langsam auf den Rückweg. Immer wieder bleibe ich am Bächlein stehen und sehe hinein. Ein bisschen Glimmer sammelt sich hier und da und schimmert golden. Ohne Wasser, denke ich, ohne Wasser würden all unsere Schätze in uns verborgen bleiben. Doch es spült sie nach draußen, macht sie sichtbar und nutzbar. Außerdem treibt das Wasser unserer Mühlen an, macht uns erst lebendig. Man kann noch so klarsichtig sein und voller Energie und Gesundheit – ohne die Gefühle bleibt alles schal und trocken und unfruchtbar.
Ich denke an die wunderschöne Stelle in der Bibel (jaha, so was kenn ich auch!) aus dem Hohelied der Liebe:
„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“
Ich folge den Bach weiter bis zu dem Punkt, wo er in den kleinen See mündet. Von dort wird er weiterfließen, in andere Bäche, kleine Flüsse, dann in den Rhein und in das Meer. Dort wird er eins sein mit dem großen Ganzen, bis ein Sonnenstrahl ihn trifft und einen Tropfen hinauf in die Wolken zieht und ihn irgendwohin trägt und er wieder zurück zum Meer fließt...
So viel wird jeder Tropfen sehen bis die Welt untergeht...
Und so unterschiedlich in seiner Form kann das Wasser sein! Rauschende Flüsse, modriger Sumpf, Berge von Eis...
Ich erinnere mich an ein Psychospielchen, das ein Lehrer mal mit uns trieb. In einer Art Trancereise sollten wir uns unter anderem vorstellen, wie wir eine trockene Schlucht durchwandern und da auf Wasser stoßen. Der Witz war natürlich, dass Wasser dann nach Sammeln der Berichte mit Sexualität gleichgesetzt wurde. Zum Glück habe ich meinen Eindruck nicht berichtet – ich sah einen rauschenden Fluss auf mich zukommen, wie ein Wasserfall, klar und stark, kalt, aber prickelnd und belebend und mit Wonne und ohne Angst stürzte ich mich hinein.
Wenn ich mich nicht völlig falsch einschätze, trifft das meine Einstellung zu Emotion (und Sex?) gut. Ich bin jemand, der eher den emotionalen Kick suchte, als diesen und das Risiko zu vermeiden - auch wenn ich früher eher verschlossen war und meine Gefühle für mich behielt, während ich inzwischen vernünftiger geworden bin, um nicht immerzu zu weggespült oder peinlich zu werden. Doch man kann Gefühle so viel aufzustauen, umzuleiten, auszutrocknen oder sonst etwas versuchen – sie verschwinden nicht. Meist ist es das Vernünftigste, sie einfach nur fließen zu lassen, um keine Dammbrüche zu beschwören.
Dabei bin ich im echten Leben bei aller frühen Leidenschaft für Wasser, Planschen und Baden (und Sternzeichen Skorpion mit Aszendent Krebs) nie ein guter Schwimmer geworden, bin unfähig zu tauchen und hätte panische Angst davor, in einem U-Boot mitzufahren. Aber die größte Angst jagte mir als Kind (und immer noch gruselt mich das) seltsamerweise die Vorstellung eines leeren Schwimmbeckens ein. Heute denke ich zum ersten mal in meinem Leben – könnte das dafür stehen, dass mir die größte Angst der Ort macht, wo Wasser oder Gefühl sein sollte – aber keines ist.
Verschlossene Menschen machen mich neugierig. Gefährliche Emotionen anderer machen mich bestenfalls vorsichtig. Gefühlskalte Menschen machen mir Angst. Die Vorstellung, weggeschwemmt zu werden, die Kontrolle zu verlieren und in den Fluten der eigenen Gefühle unterzugehen, bereitet mir viel weniger Sorge als die Aussicht auf ein karges, trockenes Land in mir, wo nichts wächst und nichts vergeht.
Um diese Einsichten zu vertiefen, werde ich mich in der nächsten Zeit noch intensiver mit meinen Karten und meinem Seelchen beschäftigen.
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