05 Juli 2005

Dagaz - Schmetterling und Doppelaxt

Mit Dagaz hatte ich zunächst ein bisschen Probleme... zum einen fand ich die Beschreibungen, die ich zu dieser Rune fand, etwas widersprüchlich (Harmonie, aber auch die Gegensätze; spirituelles Erwachen, aber auch Sexualität und die Uneindeutigkeit der Morgen- und Abenddämmerung usw.). Zum anderen fand ich die zugeordnete Pflanze, das Geißblatt, nicht. Oder besser - wenn ich auf so eine Pflanze stieß, stand sie in einem Garten (wo man ja als halbwegs zivilisierter Mensch nicht einsteigt, um sich Holz zu holen) und war dann auch noch im Normalfall so spillerig dünn, dass ich daraus eh keinen Runenstab hätte fertigen können. Dabei gefiel mir die Beschreibung des Geißblattes, die ich bei den Bachblüten (mit denen ich normalerweise nicht viel anfangen kann) fand - Honey Suckle als das Mittel für Menschen, die in verklärenden oder verstrickenden Erinnerungen festhängen und sich davon nicht lösen können - sicher eine meiner Schwachstellen!

Ich war schon am Überlegen, ob und wenn ja, welche andere Pflanze ich nehmen könnte, als ich dann doch den rechten Dreh fand.

Ich war gerade im Haus meiner Mutter, dass ich für die paar Tage ihrer Abwesenheit hütete. Hier habe ich meine Kindheit und Jugend verbracht - im ehemals letzten (nun vorletzten) Haus am Wald, in Gesellschaft von Hunden, Katzen, Rehen, Pferden, Kühen und allerlei sonstigem Getier. Meine Eltern haben mich - teils notgedrungenerweise, da sie beide voll berufstätig waren - sehr frei aufwachsen lassen, und ich konnte eigentlich so viel herumstreifen, wie ich wollte. Ab meinem neunten Lebensjahr bin ich der spießigen Tyrannei meiner Tagesmutter entronnen und durfte für mich alleine sorgen. Ich war ein großes, dickes, unerschrockenes, wenn auch stilles, verträumtes und oft melancholisches Kind. Ich hänge dieser Zeit nicht sonderlich nach, denke aber gerne und dankbar daran zurück, was ich lernen konnte.

Als ich gestern meine Schuhe anzog, um durch meine alten Reviere zu streifen und einen letzten Versuch zu machen, die Wildform des Geißblatt im Wald zu suchen, fühlte ich mich wieder ein bisschen so wie früher, wenn ich an einem Sommermorgen in den Ferien loszog, um meine Lager zu inspizierten und zu spielen. Die Sonne brannte schon heiß auf den Feldern, aber ein angenehmer Wind, der darüber strich, machte es erträglich. Ich ließ mich darauf ein, mich ein bisschen in meine Kindheit zwischen dem 8. und 12. Lebensjahr „einzutunen“, besonders das Alter zwischen Kindheit und Pubertät, als ich noch wie ein Kind spielte - und anfing, in dem Niederlegen von einem Blumenopfer an einem Stein ein bisschen mehr zu sehen als ein Spiel.

Tatsächlich fand ich auch schnell eine Pflanze, von der ich glaubte, dass es Geißblatt war. Sie stand an einer Straße am Rand meines kindlichen Reviers, und ich nahm einen daumendicken abgetrennten Ast mit... aber war es wirklich Geißblatt? Die charakteristischen Blüten waren nicht mehr da, sondern nur kleine, unreife und uneindeutige Beeren. Ich grübelte, während ich weiterlief, und plötzlich war mir klar - das ist doch eigentlich egal! Und steht nicht Dagaz eben auch für die Ungewissheit und das freundliche Zwielicht der Dämmerung? Für die Zeit zwischen Blüte und reifer Frucht im Leben?

Wichtig, damit ich die Rune Dagaz verstehen kann, ist der Rückbezug auf meine Kindheit. Auch wenn mein Leben bisher nicht ohne Schlinger und Purzelbäume verlaufen ist, so fühle ich doch - seit ich mich mehr mit Spiritualität beschäftige, immer mehr - dass da ganz tief in mir eine kleine, stete Flamme ist, die mich wärmt und zum Wachsen bringt und dafür sorgt, dass ich tief durchatmend auf Hügeln stehen kann und das Gefühl habe, fast fliegen zu können. Diese Flamme ist in meiner Kindheit entzündet worden. Sie ist einer der Schlüssel zu meinem Ich.

Ich bin als Kind innerlich langsam gewachsen und habe lange Zeit im zarten Dämmerlicht zwischen Kindheit und Jugend verbracht. In manchen Dingen war ich ungewöhnlich weit, in anderen noch lange ungeheuer kindlich. Ich habe mit bis 14 noch wie ein Kind gespielt und trotzdem Hesse, Mann und die Tagebücher der Anne Frank gelesen. Ich war schüchtern und verletzlich, aber in der Natur hatte ich keine Angst. Ich hatte stets ein langes Messer dabei (das ich noch heute fast immer bei mir trage!) und wusste - Amazone Rabenfeder kann nichts geschehen. War es Dagaz, das (die?) über mich wachte in Form der Doppelaxt der Amazonen und mir früh eine Portion Stolz eingeimpft hat, der mich vor ein paar typisch weiblichen Selbsterniedrigungen schütz(e)?

Mit 12 herum war das Alter, in dem ich langsam von der kindlichen Unschuld in Bewusstheit tauchte und die Welt unter mir liegen sah und wusste - noch ist nicht die Zeit, noch muss ich reifen und mich verpuppen, noch muss ich wachsen, und ich bin nicht in Eile, aber dann werde ich meine Flügel entfalten können - vielleicht nur als dicke Motte und nicht als schöner, ätherischer Schmetterling, aber was soll’s! Ich werde eines Tages fliegen.

Schon spürte ich damals das aufregende Prickeln, wenn man sich heimlich gackernd mit Freundinnen schweinische Zeitschriften ansah, doch ich wusste, dass es noch Jahre dauern würde, bis ich selbst so etwas erleben würde, und dass es gut und richtig war, zu warten. Noch wusste ich, dass der Aufbruch der wilden Jugendjahre noch einige Zeit dauern würde, aber ich konnte es schon am Horizont erkennen. Ahnte ich schon, dass es auch dunkle und schwere Tage und Jahre waren, die da mit dem begeisternden Aufbruch heranzogen? Einsame Monate, in denen man verpuppt dalag, nicht mehr Kind und noch nicht Frau, missverstanden, scheinbar ungeliebt, hässlich, unfertig, unförmig?

Doch damals war das noch unwichtig. Ich war groß, dick, intelligent und 10 oder 12 Jahre alt. Ich hatte mein Messer, meinen Amazonennamen und meine Freiheit. Ich hatte meine Wälder, Wiesen und meine Freundinnen (Rabenschwinge, Adlerfeder, Adlerauge). Ich hatte meine Bücher, meine ersten Tarotkarten, meine Träume, meine Gedichte. Ich war die Raupe, die sich einspann, um sich langsam zu verwandeln. Ich konnte warten.

Dies ist daher das Gefühl, das ich mit Dagaz verbinde - die Zeit der Morgendämmerung, wenn man noch nicht weiß, was der Tag bringt, man aber schon entschlossen und neugierig, doch ohne Eile, auf die ersten Sonnenstrahlen wartet in der ruhigen Gewissheit, dass alles so wachsen wird, wie es soll. Auch sehr wichtig finde ich den Aspekt des Beginnes, der spielerisch und ohne Druck und Absicht geschieht. Gerade die Spiritualität und die Liebe sind zwei Bereiche, wo, meine ich, eine solche spielerische und dennoch ernsthafte Herangehensweise für mich immer die richtige war. Fröhlich und neugierig wie ein Kind, das begeistert alles ausprobiert, einfach zusehen, wie es wächst, ohne sich und anderen Druck zu machen oder sich zu sorgen, ob beim Spiel Kleider zerreißen oder Waden zerkratzen oder gar einmal ein Arm bricht. Das Wachstum einfach zulassen, akzeptieren, dass die Nacht und die schweren Jahre zum Wachstum dazugehören. Wachsen ist Freiheit.

Und wenn man kurz vor der Pubertät in den Sommerferien über verdorrte Wiesen geht, hält man alles für möglich - das einem Flügel wachsen oder eine Baumkrone oder ein mörderisch großer Busen oder etwas ganz anderes.

Auf jeden Fall - es beginnt.
Jetzt.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

höm.....
da kamen bei mir jetzt aber auch erinnerungen hoch ... sogar der geruch von einem sommertag in den ferien...
schön geschrieben! und mehr inhalt wie nur worte

grützli
lucia

Anonym hat gesagt…

Ein freundliches "Hallo" erstmal.

Seit ein paar Tagen schon (immer ein paar Bereichte) lese ich deine Blogs zu den Runen, einfach wuderbar.

Ich beschäftige mich erst kurz mit Runen und meine Erfahrungen sind beweitem nicht so tiefgehend wie deine aber Zu Dagaz möchte ich etwas schreiben:

Als begeisterter Segler war für mich der erste Eindruck von Dagaz Segel, Segelboot, Wind-Wasser Übergang; auch wenn das nicht zu den eingebürgerten Theorien passt.
Aber Wikinger waren ja auch ganz passable Seefahrer und von daher passt das für mich.

Es gibt für mich kaum einen schöneren Augenblick als früh morgens in der Dämmerung an Deck zu sitzen und Wind und Wellen zu lauschen. Den Übergang von Nacht auf Tag (oder umgekehrt) am Übergang zu Wind und Wasser zu erleben. Die Energie ist einfach unbeschreiblich.
Doch auch für das Segeln selbst steht Dagaz für mich. Sein Segel so zu stellen und den Wind so einzufangen damit sich das Boot am Wasser bewegt obwohl die Kräfte eigentlich gegeneinader wirken.
Im Leben selbst bin ich immer gegensätzlichen Kräften ausgeliefert, doch ich lasse mich nicht auf eine Seite ziehen sondern segle in die Richtung die mir als Richtig erscheint.



Liebe Grüsse, Sentinel

Bodecea hat gesagt…

Hallo Sentinel,

vielen Dank erst mal für dein Lob! Es freut mich sehr, dass ich mit meinen ersten "Runenerkundungen" andere ein bisschen inspirieren kann :-).

Deine Assoziation zu Dagaz gefällt mir gut. In den Morgen oder Abend segeln... ich glaube, das trifft es gut.

Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich deinen Kommentar in unserem Forum (http://4598.rapidforum.com/) verlinke oder wiedergebe.

Alles Liebe
Bodecea